Die Erfindung der Nativität. Zur Systematisierung der Horoskop-Astrologie im spätptolemäischen Ägypten
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat dem Althistoriker Dr. Alfred Schmid am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Halle ein Forschungsprojekt für drei Jahre bewilligt.
Die griechische Astrologie – als sog. Horoskop-Astrologie (wie heute noch praktiziert) wohl im ptolemäischen Ägypten noch im 2. Jhdt. entwickelt – hat in Rom schnell Karriere gemacht und war von Anfang an umstritten. So wurde unter anderem argumentiert, dass Massenkatastrophen (das sog. „Cannae-Argument“) eindeutig gegen ein individuiertes Schicksal sprächen, wie es die Horoskop-Astrologie implizierte. Der kaiserzeitliche Astrologe Vettius Valens suchte dagegen durch den Abgleich von sieben „Nativitäten“ von Betroffenen eines Schiffbruchs zu beweisen, dass sie alle zur selben Zeit ‚schlechte Konstellationen‘ gehabt hätten. – Das Argument und sein Anlass belegen einen mentalen Horizont, in welchem sogar die ‚Bestimmtheit’ eines Gross-Ereignisses (wie paradigmatisch die Schlacht von Cannae) gleichsam in die Individuen, in eine ihnen exklusiv eigene fatale Identität hineinverlagert werden konnte. So als wären hier die Identitäten gleichsam in ‘Kreisen’ einer spezifischen und sozial absoluten Lebensstruktur gefangen, wie es das Formular eines Horoskops anschaulich machte.
„Identität“ ist nun ein vielbesprochener Begriff und wird als Element persönlicher Reflexion meist erst der Neuzeit oder gar der Moderne zugesprochen. Ausgangshypothese dieses Projekts ist die Annahme, dass die sogenannte „Genethlialogie“ (als Horoskop- oder „Nativitäten“-Astrologie) ein wichtiger Markstein in der historisierbaren Genese reflektiert-individuierter Identität gewesen sein muss. Damit käme auch dem örtlichen und zeitlichen Umfeld einer vermutbaren Neukonzeption ein neues Gewicht zu: Im spätptolemäischen Ägypten, also in dem gemischtkulturellen Milieu einer nach Massgabe damaligen Verständnisses ‚globalisierten‘ Welt, wäre ein neues Konzept von Identität entstanden, das in vielen Quellen und Quellensorten als intensiv systematisiertes auftritt.
Von grossem Interesse sind erst einmal die kulturell heterogenen Ingredienzien der in den Texten zur Horoskop-Astrologie greifbaren Theoretisierungen von Identität: Elemente griechischer Bildung, ägyptischer Kosmologie und Religion sowie babylonischer Omenkunde (mit entsprechendem astronomisch-mathematischem Apparat) sind hier eine neue Verbindung eingegangen, die man zeitgemäss etwa als „hybrid“ oder auch immer noch als „synkretistisch“ bezeichnen könnte. – In einem ersten Teil der Projektarbeit wird versucht, die Frage nach einer greifbaren Konzeption von Identität anhand repräsentativer Quelleneinsicht zu beantworten. Die Eigenart des vorliegenden Auffassens von Identität ist näher zu bestimmen: Ersichtlich als Versuch der Objektivierung ihres Unsichtbaren mit astronomischen Daten als heuristischem Instrument, mit dem Geburtsaugenblick als Basis einer Objektivierung als ‚Einmaligkeit‘.
In einem zweiten Teil soll die Frage nach dem „Milieu“ der historisierbaren „Erfindung“ gestellt werden (mit den bekannten „Nechepso/Petosiris-Fragmenten“ und ihrer Einordnung als wichtigem Anhaltspunkt). Lässt sich in gewissen Kreisen (und in welchen?) des späthellenistischen Ägypten ein offenbar neues Bedürfnis nach – vergleichsweise ‚absoluter‘ – Identität verständlich machen? Könnte die neue Theoretisierung Symptom oder ihrerseits Antwort auf eine Krise von „Identität“ als Zuschreibung von individueller Unterscheidbarkeit sein? Gab es gar ein neues Bedürfnis nach (offensichtlich fataler) Identität? Spielt das im astronomisch konkreten Sinne „globale“ Formular der neuen Identität dabei eine Rolle? Welche Kreise sind ursächlich gewesen für die „Erfindung“ und was sind ihre möglichen Motive? Was für eine Rolle spielt der politische Rahmen? Gibt es Verbindungslinien zu anderen politischen oder kulturellen Phänomenen?
Das Projekt soll als Ergebnis nach drei Jahren eine druckfertige Monographie zur Fragestellung liefern. In ihr sollen auch die Ergebnisse eines möglichst intensiven Austausches mit Wissenschaftlern der Nachbardisziplinen der Alten Geschichte zum Ausdruck kommen.